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PDF: Kolja Nikolai – Zimmer frei in Kreuzkölln
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Plötzlich ist das andere Zimmer in meiner 2er-WG frei und ich suche mal wieder einen Mitbewohner* eine Mitbewohnerin. Das sollte ja nicht so schwer sein, denke ich, der Mietvertrag ist zehn Jahre alt, die Wohnung liegt in Kreuzkölln, das Zimmer ist groß und sonnig… Ich schreibe also eine nette kleine Anzeige: Ich suche einen Mitbewohner* eine Mitbewohnerin zwischen 25 und 35, der oder die gerne mit mir zusammen kocht und auch mal ein Bier mit mir zusammen trinken möchte. Über alles Weitere können wir ja persönlich reden. Ich packe noch ein paar Bilder dazu und lade alles bei WG-Gesucht.de hoch. 30 Sekunden später habe ich zehn neue E-Mails, eine Minute später ist mein Postfach verstopft, dann bricht das Internet zusammen und das Licht geht aus. Habe ich einen Fehler gemacht?
Ich gehe in den Flur, mache die Sicherung wieder rein, es wird wieder hell und jemand klopft an der Tür.
Ich mache die Tür auf: Das ganze Treppenhaus ist voll mit jungen Leuten. Ich knalle die Tür sofort wieder zu. Ich höre sie rufen:
„Ich koche auch gerne!“
„Ich bin Bierbrauer!“
Sie klopfen ununterbrochen gegen die Tür, aus dem Klopfen wird ein Hämmern, die Tür wackelt. Panisch schiebe ich einen Schrank vor die Tür und mich überkommt eine böse Ahnung. Ich schleiche ans Fenster: Sie stehen überall. Ich sehe die Straße nicht mehr. Auf Schildern lese ich:
„4-Sterne-Koch. Vegetarisch, vegan, scheiß egal.“
„10 Jahre WG-Erfahrung“
„Ich putze gerne“
„Ich putze noch viel lieber als der neben mir“
Ich sehe mehrere Leute Hängematten zwischen die Bäume hängen, andere bauen Zelte auf. Ich mache das Licht aus und stelle mich tot.
Am nächsten Morgen sind sie immer noch da. Ich verkleide ich mich als Packetbote und krieche über den alten Kaminschacht und unseren Keller ins Nachbarhaus, von dort aus gelange ich über einen ehemaligen Luftschutzbunker in die Parallelstraße. Auch hier ist alles voller Zelte. Überall sitzen Grüppchen um Feuerstellen und kochen Kaffee oder rösten ein paar gefangene Spatzen und Tauben. Ich ziehe mein Basecap tief ins Gesicht und gelange unerkannt zur U-Bahn.
Im Berliner Fenster schreibt die B.Z.: WG-Zimmer in Neukölln für unter 250 Euro! Hundertausende haben sich auf den Weg gemacht. UN richtet Lager ein.
In der Uni betrete ich den Seminarraum und nicke dem Professor zu.
„Sie hier? Damit hätte ich nicht gerechnet.“, ruft er völlig erstaunt.
Alle drehen sich zu uns um. Verdammte scheiße, der hat sich doch noch nie an mich erinnert!
„Das ist der mit dem Zimmer!“, ruft einer. Ein anderer schwingt ein Lasso. Ich renne los, raus auf den Flur, die Horden mir hinterher. Einige springen nach mir. Ich weiche aus, renne im Zickzack. Netze landen neben mir auf dem Boden. Betäubungspfeile zischen an mir vorbei. Ich gelange nach draußen, renne die Straße entlang, drehe mich einmal kurz um: Es müssen tausende sein. Über uns kreisen Helikopter. Verdammte scheiße, ihr sollt mich nicht filmen, ihr sollt mir helfen! Plötzlich kommen auch von vorne Massen und ich renne ins nächste Gebäude, eine Treppe hoch, einen Gang entlang. Am Ende des Ganges sind zwei Türen. Ich reiße die linke auf. Es war die falsche. Ich sitze in der Falle. Es gibt keine weitere Tür. Ich höre wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt und ich weiß, ich bin nicht alleine. Ich höre, wie jemand abschließt. Ich drehe mich langsam um. Das ist die eine aus meinem Seminar, die ich immer verstohlen angucke, aber so habe ich sie noch nie gesehen. Sonst schläft sie immer fast ein und jetzt ist sie sprungbereit, zu allem entschlossen. Ich schließe meine Augen und hoffe, dass es nicht allzu sehr wehtun wird, wenn sie sich gleich auf mich stürzt und mir ihre Zähne in den Hals schlägt, um mein Blut auszusaugen. Stattdessen haucht sie mir ins Ohr: „Ich mache alles, was du willst.“
Ich mach eine Auge vorsichtig wieder auf und in diesem Moment wird mir alles klar: Wie das Kapital auf der Suche nach Rendite das Leben in den Städten zerstört, was das mit den Menschen macht, wieso der Markt genau das will und niemals billigen Wohnraum schaffen wird und was jetzt zu tun ist. Ich muss sofort zu den Massen sprechen und sie haucht mir wieder ins Ohr: „Alles, was du willst.“
Ich… äh…
„Hör zu“, sage ich zu ihr, „lass uns jetzt nichts überstürzen, du bist ein Opfer des Marktes und die privatisierten Rentenfonds treiben dich in eine Abhängigkeitsspirale aus der du…“
Sie schaut etwas irritiert. Dann legt sie mir einen Finger auf den Mund, schaut mir tief in die Augen und sagt: „Du bist mir schon das ganze Semester über aufgefallen.“
„Niedrigzinsen…“, stammle ich. Sie legt eine Hand auf meinen Oberschenkel und mein Kopf geht aus –
Als ich wieder zu mir komme, denke ich, ich könnte mein Zimmer auch häufiger bei WG-Gesucht.de reinstellen… nein! Entschlossen und nackt trete ich auf einen Balkon, der da plötzlich ist, und verkünde den Massen und Helikoptern:
„Ich habe eine neue Mitbewohnerin!“
100.000 machen ein enttäuschtes ohh. Ich warte kurz, ich weiß genau, was zu tun ist, und als sich alles wieder beruhigt hat, spreche ich zu den Massen: „LEUTE, das ist doch kein Zustand, wir müssen uns organisieren und was gegen die Miethaie und die profitgeilen Aktiengesellschaften machen! Wir müssen uns mit unseren Nachbarn zusammenschließen und wir dürfen nicht auf die Parteien warten, sondern müssen selber anfangen und kämpfen!“
Ja und dann ging’s los, wir haben die Aktiengesellschaften enteignet, die Wohnungen in die Hände der Mieter überführt, Gesetze geschaffen, dass nur noch gemeinwohlorientierte Gesellschaften Wohnungen bauen dürfen und als wir das alles geschafft hatten, haben wir uns wieder den schöneren Seiten des Leben zugewendet. Ja, so war das 2020.