Auf der Suche nach einem Termin

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PDF: Kolja Nikolai – Auf der Suche nach einem Termin

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Auf der Suche nach einem Termin

Alles begann mit einer kleinen unschuldigen Erdnuss, die einfach so auf dem Küchentisch lag und weil ich sie einfach so haben konnte, habe ich sie sofort gegessen… und jetzt stehe ich mit einer Erdnussschale vor unserem Biomüll: unser Biomüll ist ein sorgfältig geschichteter Berg von knapp anderthalb Metern Höhe, umschwirrt von zehn Brigaden Fruchtfliegen so laut wie der alte Laptop meiner Mitbewohnerin. Vorsichtig mache ich einen Schritt auf ihn zu. Alles wackelt, schwankt, ich springe zurück — Ich kenne: Das ewige WG-Gesetz: Der, bei dem alles zusammenfällt, der muss den Müll runterbringen.

Ich könnte die Schale einfach in den Restmüll… nein, 2,90m und in der Mitte schläft ein Waschbär. Warum habe ich nur diese Erdnuss gegessen? WARUM? Ich war doch gar nicht hungrig! Aber ich werde diesen Müll nicht runterbringen! Ich habe ihn schließlich erst letzte Woche — letzten Monat — letzten Sommer, ich habe ihn letztes Jahr bestimmt schon einmal, seitdem ich hier wohne habe ich mindestens einmal, ich habe bestimmt schon irgendwann mal irgendwo einen Müll runtergebracht. Jawohl! Ich bringe diesen Müll nicht runter! Eher esse ich die Schale!

Nein.

Obwohl? —

Nein. Denk nach, denk nach, für jedes Problem gibt es eine Lösung. Die Schale muss nur an die richtige Stelle, am besten als Pulver. Ich könnte die Schale zermahlen und dann das Pulver aus sicherer Entfernung mit einem Fön … Hmmm. Oder man könnte das jetzt ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Ich berufe ein WG-Plenum ein, rede mit den anderen darüber, was jeder für Bedürfnisse und Möglichkeiten hat und dass das Erledigen von Haushaltsaufgaben ein Zeichen von Respekt und Wertschätzung ist! Gemeinsam gehen wir dann an die Wurzel dieses Problems, legen sie frei und dann halten wir schriftlich fest, was jeder einzelne tun kann und wie jeder einzelne sich verändern muss, damit das nie wieder vorkommt.

Vorsichtig streue ich das Pulver vor den Fön. Als das erste Körnchen den Biomüllberg trifft, stürzt alles zusammen. Mit einem biblischen Summen erheben sich tausende von Fruchtfliegen und verdunkeln die Küchenlampe, vier Waschbären greifen mich an, ich renne in den Flur, in mein Zimmer, schlage die Tür zu.

(dabei schwer atmen) Ok, ok… – also doch das Plenum.

Ich rufe Nina an. Ihr erster freier Abend ist im April. Dann Markus. Er kann an keiner von Ninas Zeiten. Ich rufe Nina wieder an, der erste gemeinsame Termin ist im Mai. Fehlen nur noch Leonie, Nils und Chiara.

„Wie lange soll das denn gehen?“, fragt Leonie.

„Zwei Stunden?“

„Zwei Stunden?! Zwei Stunden habe ich frühestens wieder im August.“

Ich notiere mir ihre Zeiten im August und bin mir nicht mehr so sicher, ob das mit dem Plenum eine gute Idee war. Ich rufe Markus wieder an und Markus kann immerhin an einem Termin von Leonie. An einem Donnerstag um sieben Uhr morgens?!

„Oh ne, tut mir voll leid“, sagt Nils, „Donnerstagfrüh spiele ich immer Frisbee.“

„Du spielst morgens um sieben Frisbee?“

„Ja, wir sind über 20 in der Gruppe und das ist der einzige Termin, an dem wir alle Zeit haben.“

Ich notiere mir seine Zeiten im September, rufe Markus an und Markus ist im September im Urlaub. Ich notiere mir seine Zeiten im Oktober, rufe Nina wieder an und es bleibt wieder genau ein Termin übrig. Ich rufe Chiara an.

Chiara sagt: „Oh tut mir leid, da habe ich schon ein WG-Treffen.“

„Wie?! Du hast da schon ein WG-Treffen?! Wie viele WGs hast du denn?“

„Das ist noch aus meiner alten WG. Wir haben damals keinen früheren Termin gefunden. Ich glaube, das war 2011.“

Mir wird ganz schwarz vor Augen… Als ich wieder zu mir komme, bin ich soweit, dass ich kurz überlege einfach den Müll runter zu bringen… mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, wo die Mülltonnen stehen… und überhaupt! Bedürfnisse, Respekt, Wertschätzung!

Ich verlange von allen, dass sie mir ihre Terminkalender schicken und lade mir eine superneue Terminfindungs-App runter – mein Handy explodiert.

Ich engagiere zwei chinesische Wissenschaftler, beide werden verrückt!

Ich schaue bei WG-Gesucht.de nach einem neuen WG-Zimmer. Aber ich finde nichts, es ist einfach nicht mehr 2010, als man noch umziehen konnte, wenn der Müll voll war!

Ich gebe auf.

Ich gehe in die Küche… Ich verfüttere den Biomüll an die Waschbären und will sie anschließend dem Tierpark schenken. Der Tierpark sagt, sie nehmen keine Waschbären mehr von WGs an. Mit etwas Überredungskunst kann ich ihnen immerhin drei aufschwatzen und den vierten setze ich in den Biomüll.

Dann, gerade als ich den restlichen Müll runterbringen will, habe ich die Idee! Warum bin ich da nicht früher draufgekommen?! Was war ich für ein Idiot! WG-Plenum, Bedürfnisse, Möglichkeiten, Respekt, … Ich kaufe einfach einen neuen Mülleimer! Dann ist der Müll nicht mehr voll!

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