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PDF: Kolja Nikolai – An der Kasse
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Text
An der Kasse
Ich bin wieder aus dem Urlaub zurück und sage mir: Es gibt ja auch zu Hause viele schöne Sachen, bestimmt. Die fallen dir nur jetzt gerade einfach alle nicht ein. Stattdessen ist da wieder dieser Alltag und ich stehe wieder vor meinem RUWU-Supermarkt
(Name von der Rechtsabteilung des Autors geändert) und muss einkaufen… Ich suche mir meine Reiseländer immer nach den durchschnittlichen Restaurantpreisen aus, denn ich hasse einkaufen. Kochen ok. Aber für kochen muss man einkaufen… Irgendwie schleppe ich mich durch die Obst- und Gemüseabteilung, an den Kühlschränken vorbei und die Gänge entlang. Es ist mir völlig egal, was ich kaufe, bei mir zu Hause ist eh alles alle und so greife vor allem bei den Sonderangeboten und bei den besonders bunten Sachen zu. Dabei denke ich an die Freiheit und die große Weite, die nicht einmal 48 Stunden aber dafür tausend Kilometer von mir entfernt liegen.
An der Kasse sehe ich plötzlich, dass Fine hinter mir steht. Oder ist sie das wirklich? Sie hat sich weggedreht, ich kann nicht hundertprozentig erkennen, ob sie es ist. Aber sie hat diesen Undercut und den sehr kurzen, absolut geraden Pony, die zwei Dreads und die Tätowierungen auf den Armen und im Nacken. Das muss sie sein. Nur warum steht sie so komisch schief und guckt irgendwohin? Fine kenne ich seit ein paar Jahren, aber wir kennen uns auch wieder nicht. Sie ist auch auf all diesen linken Veranstaltungen, auf denen ich immer bin. Sie organisiert ununterbrochen Workshops und sie ist auf jedem Plenum. Ich mag sie, aber sie ist so unerreichbar. Sie legt auch noch auf und singt in einer Band. Ein paar Mal haben wir uns richtig gut unterhalten und…
„Guten Tag. Hatten Sie einen guten Einkauf?“
„Äh… Ja, äh.“
Ich bin dran und verwirrt, aber der Kassierer ist in seiner Routine und beachtet mich nicht weiter und zieht zwei Tiefkühlpizzen über den Scanner. Dann eine Leberwurst, Chiquita-Bananen und – ich – v e r s t e h e… Oje… Schweiß tritt auf meine Stirn. Ich schiele auf das Laufband hinter meinen Einkauf und neben Fine liegt eine einzige Packung BIO-Reiswaffeln mit Fair-Trade-Zartbitterschokolade…
Biep. Ja!-Vanillepudding im 6er Pack. Biep. Ja!-Frosties. Biep. Sechs Energydrinks in der Dose. Biep.
Da nähert man sich jahrelang an, lacht zusammen, geht zusammen in die Sauna, tanzt, singt, diskutiert über Gender und Landwirtschaft und dann… Biep. 500g Fleischsalat. Biep. Sardinen in Tomatensoße. Biep. Speckwürfel in Aspik. Biep. Naja, ich kann mir ja neue Freunde suchen. Biep. Mehl 405. Vielleicht nicht in Berlin. Biep. Vier Tafeln Ja!-Schokolade. Wer hat überhaupt diesen ganzen scheiß gekauft? Biep. Schweineschmalz. Hört das denn nie auf? 10 Deutschländer im Glas. Biep. Nochmal 10 Deutschländer im Glas. Biep. Und nochmal. Biep. O Gott – und jetzt kommen die Eier… Kein Biep dieses Mal.
„ERNA! Was kosten die Eier? 10 Stück Bodenhaltung!“
Ich wandere aus. Nach Brandenburg. Nein, das geht nicht, zu nah, also nach…
„89 Cents!“
…nach Timbuktu.
Biep. Gemischtes Hack.
O ja…
Biep. Bärchenwurst.
Ich geh nach Timbuktu.
Biep. Marinierte tiefgefrorene Chicken Wings.
Ich zieh auf den Mond.
„Haben Sie eine Paybackkarte?“
„Ja… Äh – NEIN! Niemals! Ich gebe euch meine Daten nicht!“
Der Kassierer guckt mich komisch an, auch mehrere andere Leute drehen sich um – Fine dreht leicht den Kopf. Das ist mein Signal. Ich springe auf die Kasse.
„Ich hatte nie vor hier einzukaufen! Ich lehne euer System ab. Schaut euch an! Ihr seid alle nichts weiter als Sklaven des Konsums. Von der Werbung programmiert! Für den billigsten Fraß und ungesündesten Scheiß lasst ihr euch ausbeuten und ihr redet euch auch noch ein, dass ihr das wollt. Erhebt euch! Steht auf gegen die Herrschaft der Konzerne und des Kapitals! Schließt die Reihen eurer Brüder und Schwestern in Bangladesch und Uganda. Ihr glaubt, ihr könnt nichts ausrichten, aber ich frage euch, wann, wenn nicht heute? Ja! Wer, wenn nicht ihr? Und wo? Wenn nicht hier und jetzt bei RUWU!“
Ich mache eine Pause und gebe den Massen Zeit sich zu erheben. Sie erheben sich aber nicht. Das ist mir egal. Ich springe von der Kasse, packe Fine und wir küssen uns lang und wild und leidenschaftlich und dann rennen wir raus und springen auf meinen solarbetriebenen Roller und fliegen in den Sonnenuntergang…
Ja, das ist natürlich nicht passiert, das habe ich mir leider nur ausgedacht. In Wirklichkeit war ich sogar so apathisch, dass ich auch noch die Fußballsticker entgegengenommen habe.